Donnerstag, 22. Oktober 2020, Bürgerhaus
Liebe Zuhörerinnen,
liebe Gemeinderätinnen, liebe Mitarbeiterinnen der Verwaltung,
zum Abschied ein
paar Gedanken über meine Jahre im Gemeinderat und über die Zukunft unserer
Gemeinde.
Ich werde in meinem
Beitrag – der besseren Verständlichkeit willen – nur die weibliche Form der
Anrede benutzen. Die Männer müsst ihr euch einfach mitdenken, so wie das
normalerweise den Frauen passiert.
Als wir uns vor 7 Jahren
entschlossen haben, mit einer eigenen Liste für den Gemeinderat zu kandidieren,
wurden uns nur wenig Erfolgschancen eingeräumt.
Es hat dann immerhin
für 1 Sitz gereicht, später kam mit Bettina Futschik eine zweite Rätin dazu.
Die ersten Jahre
waren schwierig. In der Regel wurden alle unsere Vorschläge und Ideen von einer
breiten Mehrheit abgelehnt – was CDUSPDUFW dann den Ausdruck „Blockparteien“ eingebracht
hat. Ich weiß, das hat euch nicht gefallen – aber so habe ich es damals empfunden.
Gottseidank hat sich
diese typische Erscheinung des damaligen „System Altenberger“, inzwischen zugunsten
eines anderen Umgangs miteinander geändert.
Auf ein Ereignis der
„alten Zeit“ möchte ich näher eingehen, weil es beispielhaft ist.
Dafür habe ich einen
kleinen Gegenstand aus meinem Archiv mitgebracht: und zwar ein süßes Stückle,
das damals der Bäcker hier im Bürgerhaus produziert hat und das jeder
Gemeinderätin an ihren Platz gelegt wurde. Vor einer entscheidenden Abstimmung.
Ich habe mir seinerzeit ein Exemplar fürs Archiv gesichert. (Siehe Foto)
Es ging – wie man
sieht – um den Aussichtssteg auf dem Wagbühl (7 Linden).
Trotz aller
Bedenken, die von Anfang an massiv gegen das Projekt vorgebracht wurden, wurde
es mehrheitlich durchgezogen. Das Ergebnis: ein Bürgerentscheid, den die Befürworterinnen
krachend verloren haben.
Der Bürgerentscheid
war Ausdruck eines Grundkonflikts der parlamentarischen Demokratie:
nämlich zwischen dem „Königsrecht“ der Gemeinderätinnen und der
Bürgerinnenbeteiligung.
Wir haben zunehmend
eine Bevölkerung, die mit dem alten System des „Durchregierens“ nicht mehr zufrieden
ist und „Partizipation“, also Beteiligung einfordert.
Hier gibt es ja Gottseidank
positive Entwicklungen, wie sich dann bei der Hangweide gezeigt hat, wo
verschiedene Beteiligungsrunden mit Bürgerinnen gemacht worden sind.
Wobei hier noch Verbesserungsbedarf
besteht: wenn Bürgerinnen (zufällig ausgewählt oder dem Aufruf zur Beteiligung folgend)
über die zukünftige Bebauung eines neuen Ortsteils entscheiden sollen, dann
brauchen sie zuerst mal Informationen. Informationen darüber, was alles
möglich wäre, z.B. an neuen Wohn- und Eigentumsformen. Dieses Wissen ist bei
den meisten Menschen nicht vorhanden.
Zu den Fahrten nach Zürich,
Freiburg und Tübingen, die der Gemeinderat damals unternommen hat, hätten also auch
die beteiligten Bürgerinnen mitgenommen werden sollen. Damit sie anhand der
besichtigten Stadtteile und Wohnprojekte hätten sehen können, welche
Möglichkeiten es überhaupt gibt, so einen neuen Ortsteil zu gestalten.
Bürgerinnen sind auf
der anderen Seite aber auch in der Lage, sich zu organisieren, um Projekte zu
verhindern, die gut und richtig sind, aber ihren egoistischen Interessen widersprechen.
Hier sei die Auseinandersetzung über die Holzsystembauten beim Friedhof in Rom
erwähnt. Dieses beispielhafte Projekt hätten wir statt zwei auch mit drei oder
vier Stockwerken bauen können – wenn wir schon wertvolle Ackerfläche überbauen.
Dies wurde durch ein paar „Schreierinnen“ verhindert, die mehrere hundert Meter
von den Gebäuden entfernt wohnen. Diesen egoistischen Schreierinnen („Nicht vor
meiner Haustüre“) hätten wir damals nicht nachgeben dürfen.
Der bereits
angesprochene Bereich der Information bzw. Informationsweitergabe ist ein
weiteres Problem im Verhältnis von Verwaltung, Behörden, Volksvertreterinnen
und Bevölkerung. Nach wie vor ist es so, dass hier ein Informationsvorsprung
besteht. Ich möchte nur an die jahrelangen Auseinandersetzungen in unserem
Gemeinderat um das vorzeitige Einstellen von Sitzungsunterlagen ins Internet
erinnern.
Oder, um es auf eine regionale Ebene zu heben, das ständige Verweigern der Herausgabe
von technischen und finanziellen Unterlagen im Zusammenhang mit Stuttgart 21. Es
besteht noch Verbesserungsbedarf.
In diesem
Zusammenhang eine Bemerkung zur Corona-Krise. Hier gibt es sehr
bedenkliche Entwicklungen in Richtung einer Ermächtigungs- und Erlass-Demokratie,
in der die parlamentarischen Gremien weitgehend ausgeschaltet werden. Sei es
auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene. Nicht vergessen dürfen wir, dass einmal eingeführte Kontrollmechanismen
und Überwachungsmaßnahmen in der Regel nicht mehr zurückgenommen werden.
Unser Gemeinwesen
lebt – wie der Name schon sagt – von einer lebendigen Zivil- und
Beteiligungsgesellschaft. Das mag für Entscheidungsträgerinnen manchmal nervig
sein, bringt aber auch einen Schatz an (Expertinnen-)Wissen und Erfahrung mit
in die Debatte.
Ein afrikanisches
Sprichwort besagt, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen.
Nehmen wir das
Beispiel der Flüchtlingskinder. Hier braucht es das Zusammenspiel von
Profis in der Verwaltung, in Kindergarten und Schule, in VHS, Familienbildungsstätte,
Musik- und Kunstschule mit bürgerschaftlichem Engagement: vom AK Asyl über das
Freibad und die Kultur- und Sportvereine, das KISS, die Kirchen bis zum Roten
Faden und der Sprach- und Hausaufgabenhilfe.
Nur wenn diese
verschiedenen Akteurinnen in einem Gesamtkonzept ineinandergreifen und
mitbestimmen können, wird es uns gelingen, diese Flüchtlingskinder zu
integrieren und diesen Schatz an Bereicherung unserer Kultur zu heben. Eine
schwierige Aufgabe, vielleicht eine Utopie. Aber lohnenswert.
Dasselbe gilt für
die Altenpflege. Diese sollte nicht einer privatkapitalistischen
Verwertungslogik überlassen werden. Auch hier braucht es ein ganzes Dorf, wo
sich darum kümmert. Beispiel: Eichstetten am Kaiserstuhl. Unter dem Obertitel „Das
Dorf übernimmt den Generationenvertrag“ hat sich dort vor 20 Jahren eine
Bürgerinnenaktion gegründet. Sie hat im Laufe der Jahre verschiedenste
Einrichtungen aufgebaut: Nachbarschaftshilfe, Tagespflege, Pflegewohngruppe,
Betreutes Wohnen, Cafe Mitnander und Kernzeitbetreuung. Betreut und koordiniert
werden alle Einrichtungen von einem Bürgerinnenbüro in Zusammenarbeit mit der
Verwaltung.
Damit wäre ich bei
einem weiteren Stichwort: Kapitalismus. In der gegenwärtigen
Corona-Debatte gibt es oft die romantische Sehnsucht nach der Situation vor der
Krise, dass es wieder so wird wie vor der Vollbremsung. Diese Sehnsucht
verklärt allerdings die herrschenden Zustände von Ausbeutung und Unterdrückung
(wir leben auf Kosten der Dritten Welt), der sozialen Ungleichheit (Stichwort „Die
Reichen werden immer reicher“) und der Klimakrise.
Insbesondere letztere
erfordert unser radikales Handeln. Radikal heißt: ein Problem an der Wurzel packen.
Wir brauchen neue Produktions- und Eigentumsformen, neue Lebensformen, neue
Formen des Umgangs miteinander.
Die Digitalisierung,
dieses neue Götzenbild, das von vielen Seiten völlig unkritisch angebetet wird,
hilft uns dabei nicht.
Es ist ein völliger
Blödsinn, dass wir für Hunderttausende von Euro unsere Schulen digitalisieren.
Unsere Kinder brauchen keine Tablets. Sie sollten spielen, „emm Dreck hoddlå“,
Wasserrädle im Wald bauen, im Schulwengert oder Schulgarten schaffen,
Theaterstücke aufführen und in einem Chor singen. Sie brauchen keinen Bildschirm,
sondern den persönlichen Kontakt, damit sie ganzheitlich gebildete und soziale
Wesen werden. Beispiele hierfür wären die Kulturwerkstatt der Caritas, die
Kinderakademie der Hector Stiftung oder die Forscherfabrik in Schorndorf. Dafür
sollten wir Geld ausgeben.
Wir brauchen ein anderes Gesellschaftssystem. Wie
es Martin Luther King schon 1963 gesagt hat: „I have a dream“ – „I hann
enn Traum vonnerå andrå Welt“.
Wie die genau
aussehen wird, kann ich nicht sagen. Vielleicht ist es der Anarchismus, an den
ich glaube.
Anarchismus (abgeleitet von altgriechisch‚Herrschaftslosigkeit,
ist eine politische Ideenlehre, die Herrschaft von Menschen über Menschen und
jede Art von Hierarchie als Form der Unterdrückung von Freiheit ablehnt. Dieser
wird eine Gesellschaft entgegengestellt, in der sich die Menschen auf
freiwilliger Basis selbstbestimmt in Kollektiven, Genossenschaften oder in der
Allmende zusammenschließen. Es mag auch
ein anderes Modell sein, das in einem gemeinsamen Prozess von uns allen
zusammen ausgehandelt wird. Ziel sollte sein, für alle ein gutes Leben
zu ermöglichen.
Zum Schluss eine kleine
Anekdote, die meine Einstellung beschreibt. Sie spielt „emm Freikorps“.
So wurde in Stetten die Gegend vom äußeren Pommergäßle genannt. Dort wohnten
eigenwillige Menschen, „Oådsechde“ auf Schwäbisch. Einer dieser „Oådsechde“ war
der Zimmers Karl, Jahrgang 1901, auch „Gäßles-Zemmr“ genannt.
Karl war ein Wilderer und kam wegen dieser ungesetzlichen
Aktivitäten gelegentlich in Konflikt mit der örtlichen Obrigkeit. Deshalb wurde
er vor dem 2. Weltkrieg vom damaligen Schuldes Möck aufs Rathaus zitiert.
Dieser erklärte ihm eindringlich, dass Wildern illegal sei und dass er sich der
bestehenden Ordnung zu fügen habe. Und dass es auch seinem Herrgott nicht
gefiele, wenn er die geltenden Vorschriften nicht respektiere.
Nach dieser Belehrung stand Karl auf und sagte kurz und
trocken im Gehen: „Ibr miir kommd koinr mee“ [Über mir kommt
keiner mehr].
Dankschee.